Warum sind pädagogische Fachkräfte so gestresst?
Zwischen Glitzerkleber, Verantwortung und Dauerlärm – eine stille Krise in Deutschlands Kitas
„Noch bevor ich die Einrichtung überhaupt betrete, rufen mir Eltern im Vorbeigehen Absprachen zu. Drinnen piept die Spülmaschine, das Telefon klingelt, ein Kind ruft nach Hilfe von der Toilette, ein anderes weint, weil der Lieblingsbecher fehlt. Ich ziehe nicht mal meine Jacke aus – ich bin sofort im Funktionsmodus.“
Diese Schilderung stammt von einer Erzieherin – und sie steht stellvertretend für viele.
Aber ist der Beruf wirklich so belastend, wie er klingt?
Die Antwort ist ein deutliches: Ja. Und das ist messbar.
Stress im pädagogischen Alltag: Mehr als nur “ein bisschen viel los”
Laut Studien des Deutschen Jugendinstituts und der Bertelsmann Stiftung zählt das pädagogische Fachpersonal zu den am stärksten belasteten Berufsgruppen überhaupt. Etwa ein Fünftel leidet unter starkem beruflichen Stress. Viele Erzieher*innen empfinden sich als dauererschöpft, emotional ausgelaugt – und immer mehr denken darüber nach, den Beruf nicht bis zur Rente auszuüben.
➡️ Laut AOK-Gesundheitsreport sind pädagogische Fachkräfte überdurchschnittlich oft krankgemeldet – und psychische Erkrankungen nehmen zu.
➡️ Eine Erhebung des DJI zeigt: Viele Erzieher*innen fühlen sich gesundheitlich schlechter als andere Berufsgruppen – bei gleichzeitiger hoher Selbstverantwortung.
Wie entsteht Stress überhaupt?
Stress entsteht, wenn Anforderungen unsere Ressourcen übersteigen – also das, was wir zur Bewältigung zur Verfügung haben.
Für Erzieher*innen bedeutet das:
Hohe Verantwortung + chronischer Zeitdruck + Lärm + emotionale Dauerpräsenz – ohne Pause, ohne Rückzug.
Zu den fehlenden Ressourcen zählen:
• zu wenig Personal
• zu große Gruppen
• kaum Pausen oder Rückzugsräume
• keine Supervision oder Zeit für Teamarbeit
• fehlende Wertschätzung durch Träger oder Politik
Das Ergebnis: Dauerstress, der sich körperlich, psychisch und sozial auswirkt.
Die Folgen: Wenn Körper und Psyche in Alarmbereitschaft bleiben
Chronischer Stress ist nicht harmlos.
Er verändert unsere Biologie. Studien zeigen:
• Erhöhte Cortisolwerte beeinträchtigen das Gedächtnis und die Emotionsregulation
• Stress schwächt das Immunsystem: Infekte, Erschöpfung, Schlafstörungen
• Psychosomatische Beschwerden wie Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Verdauungsprobleme
• Emotionale Erschöpfung, Reizbarkeit, depressive Symptome (Maslach, 1997; McEwen, 2000)
Burnout ist nicht einfach Müdigkeit – sondern ein ernst zu nehmender Zustand, der sich schleichend entwickelt und oft lange ignoriert wird.
Was stresst Pädagog*innen konkret?
1. Multitasking bis zum Limit
Erzieher*innen sind nicht nur Bezugsperson für Kinder, sondern gleichzeitig:
• Konfliktmanager*in
• Elternberater*in
• Reinigungskraft
• Bastelcoach
• Pädagogin, Pflegerin, Planerin, Dokumentatorin…
Diese Rollenvielfalt fordert – und überfordert, wenn zu wenig Zeit bleibt.
2. Elternarbeit: Zwischen Erwartungen und Erschöpfung
Oft wird von Erzieher*innen erwartet, pädagogische Erziehungsaufgaben vollständig zu übernehmen.
Konflikte mit Eltern, unangemessene Forderungen oder die Delegation von Verantwortung belasten zusätzlich.
3. Dauerlärm & körperliche Belastung
Kitas sind laut. Bis zu 85 dB(A) – das entspricht dem Lärmpegel einer stark befahrenen Straße.
Teppiche gibt es aus hygienischen Gründen nicht, und Schallschutz ist selten. Gleichzeitig müssen Erzieher*innen Kinder hören – Gehörschutz fällt also weg.
Sie arbeiten auf Kinderstühlen, heben Kleinkinder, rennen von Raum zu Raum. Kein Wunder, dass Nacken-, Rücken- und Gelenkschmerzen verbreitet sind.
4. Personalmangel & fehlende Teamzeit
Wenn eine Kollegin krank wird, springen andere ein. Zeit für Teamkommunikation, Supervision oder emotionale Entlastung bleibt auf der Strecke.
Dabei wäre genau das entscheidend, um psychisch gesund zu bleiben.
5. Hohe Verantwortung, wenig Rückzug
Erzieher*innen tragen enorme Verantwortung für das Wertvollste im Leben anderer Menschen – ihre Kinder.
Und trotzdem gibt es kaum Zeit für Erholung, Pausen oder Selbstfürsorge. Oft wird sogar die Freizeit geopfert: für Elternabende, Feste, kirchliche Veranstaltungen, Fortbildungen.
Warum trifft es gerade Pädagog*innen so stark?
Weil sie für andere da sind, aber oft nicht für sich selbst sorgen können
• Weil sie mit Menschen arbeiten – und jede Emotion mitschwingen lassen
• Weil sie durch Idealismus in den Beruf gehen – und mit Bürokratie und Lärm enden
• Weil sie sich für Kinder einsetzen – und dafür oft nicht die gesellschaftliche Anerkennung bekommen, die sie verdienen
Was braucht es?
Mehr Personal? Ja.
Weniger Lärm? Auch.
Aber vor allem braucht es:
• Raum für echte Pausen und Regeneration
• Teams, die füreinander da sind
• Anerkennung, Wertschätzung, faire Bezahlung
• Und: Wissen über Stress, Burnout und Resilienz – um sich selbst besser zu schützen.
Fazit: Pädagog*innen brauchen keine Tipps wie „Ja nimm doch abends ein Bad“.
Sie brauchen echte Strukturen, die entlasten. Und eine Gesellschaft, die erkennt: Gesunde Pädagog*innen = gesunde Kinder.
zum weiterlesen:
• Maslach, C., & Leiter, M. P. (1997). The Truth About Burnout
• McEwen, B. S. (2000). Allostatic Load and Stress
• AOK Gesundheitsreport (2022)
• DJI Fachkräftebarometer (2021)
• Schaufeli & Taris (2005). Burnout: Conceptualization and Measurement
• WHO (ICD-11) – Burnout als arbeitsbezogenes Phänomen